Unmittelbar im Anschluss an das letztjährige Global Orthokeratologie Symposium Ende Juli 2004 in Toronto mit seiner an Reizüberflutung grenzenden Informationswucht hatten Ulrich Maxam, der russische Fachjournalist Vadim Belousov, Chefredakteur der Fachzeitschrift „Westnik Optometrii“ (deutsche Bedeutung: Optometrischer Bote) und der Autor die Gelegenheit, den weltweit größten Hersteller für gas-permeable formstabile Kontaktlinsenmaterialien, die zum Konzern von Bausch & Lomb gehörende Firma Polymer Technology in Wilmington in der Nähe von Boston zu besuchen und näher kennen zu lernen.
Im Mittelpunkt des politischen und aktuellen Tagesgeschehens der Stadt Boston und des näheren Umlandes stand der zeitgleich stattfindende Kongress der demokratischen Partei mit der offiziellen Nominierung von John Kerry zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im November 2004; die Stadt glich für einige Tage auf Grund umfangreichster, geradezu hysterisch anmutender Sicherheitsmaßnahmen einer Festung und demzufolge war das öffentliche Alltagsleben extrem beeinträchtigt, weit von der Normalität entfernt. Vor allem die grenzenlose Freiheit der individuellen Mobilität, unverzichtbar nach dem Selbstverständnis des Amerikaners zum reibungslosen Funktionieren seiner Existenz, war empfindlich beeinträchtigt und gestört. Die City von Boston war von außerhalb auf Grund der Vollsperrung der Hauptverkehrsadern so gut wie nicht erreichbar und das Verlassen der Stadt, sofern man sich unglücklicherweise nach der Landung mit dem Flugzeug innerhalb ihrer Grenzen befand, ebenfalls nicht gerade einfach und unkompliziert möglich. Gewissermaßen als Entschädigung nach der Überwindung von Transferschwierigkeiten durch Einfallsreichtum und Toleranz folgten aufschlussreiche und interessante Stunden bei Besichtigung der Produktion gaspermeabler formstabiler Kontaktlinsenmaterialiensowie der Präsentation von Visionen und Maßnahmen, welche ein Unternehmen unbedingt und jederzeit zur Sicherung seiner marktbeherrschenden Position mittel- und langfristig zu entwickeln in der Lage sein muss.
Produktion
Angesichts einer jährlichen Produktionsmenge von mehreren Millionen Boston- Buttons vermutet der noch unkundige Besucher einen extrem aufwändigen Einsatz personeller und technischer Ressourcen bei der Herstellung formstabiler Kontaktlinsenmaterialien. Die Besichtigung des Produktionsbereiches von Polymer Technology bestätigt dies eindrucksvoll: modernste High-Tech-Ausstattung gewährleistet bis ins kleinste akribisch rechnergesteuerte und kontrollierte Prozesse, um höchste Produktqualität zu garantieren. Überraschenderweiseist aber der Anteil der menschlichen Arbeitskraft dabei gering: Polymer Technology beschäftigt am Standort Wilmington etwa 50 Mitarbeiter, wobei der größere Anteil davon den Verwaltungsbereich abdeckt. Für die Herstellung der umfangreichen Palette an Bostonmaterialien sind unterschiedliche Monomere erforderlich. Oberste Priorität für diese Monomere ist allerhöchste Reinheit, um optimalste Voraussetzungen für den Polymerisationsprozess zu gewährleisten. Der Löwenanteil der insgesamt zwischen 35 und 40 verwendeten Einzelbestandteile stammt deshalb aus den eigenen Labors: Nur diese Eigenentwicklungen können offensichtlich dem Anspruch höchster Reinheitskonzentration (99,98%) gerecht werden. Nur wenige Bestandteile werden zugekauft, durchlaufen aber bis zur Integration in den Fertigungsprozess extrem aufwändig gestaltete Reinigungszyklen, das Ergebnis unterliegt strengsten Prüfungskriterien. Mittels umfangreicher und langwieriger Filter- und Destillierungsverfahren wird die erforderliche Reinheit sichergestellt, hochsensible Gas-Chromatographen kontrollieren und überprüfen peinlich genau das Ergebnis. Ist allerhöchste Reinheit für die beteiligten Einzelbestandteile gesichert, erfolgt die Zusammenmischung der Monomere in so genannten Batches (Einzellosen); extrem wichtig dabei ist die Gewährleistung hundertprozentiger Wiederhol- und Reproduzierbarkeit für diese einzelnen Batches. Auch der Prozess der Monomermischung unterliegt zwangsläufig ständigen rechner-gesteuerten Kontrollen mit höchsten Standards. Nach abgeschlossener Mischung der Einzelbestandteile erfolgt die vollautomatische Abfüllung in die Polymerisationskammern bei Raumtemperatur. Hierbei ist die Abfüllhöhe abhängig von der Dauer, der Temperatur und den Druckverhältnissen, unter denen der Polymerisationsvorgang ablaufen wird. Man muss sich eine Polymerisationseinheit folgendermaßen vorstellen: Pro Polymerisationsofen, ausgelegt für ein Batch, existieren 400 runde, stabartige, dem Buttondurchmesser entsprechende etwa 50 bis 60 Zentimeter lange Einzelkammern. Die nach Beendigung des Polymerisationsvorganges in diesen Einzelkammern entstandenen langen Materialstäbe werden dann zu den Einzelbuttons zersägt. Polymerisation ist die Verkettung einfacherer chemischer Verbindungen (Monomere) unter Ausbildung echter homöopolarer Bindungen zu polymeren kettenförmigen Makromolekülen. Polymerisation ist prinzipiell stets eine Kettenreaktion, egal nach welchem Reaktionsmechanismus sie abläuft. Es gibt dabei untereinander verschiedene Mechanismen, die entweder nach der Art des Starts der Kettenreaktion (radikalische, anionische oder kationische Polymerisation) oder nach dem ihnen zu Grunde liegenden Prinzip (Polykondensation, Koordinationspolymerisation wie z.B. die ringöffnende Metathesepolymerisation) benannt werden. Sehr vereinfacht dargestellt, läuft eine solche Polymerisation in vier unmittelbar aufeinanderfolgenden Phasen ab: Während der Initiation, auch mit Kettenstart oder Primärreaktion bezeichnet, wird die Kettenreaktion unter Zufuhr von Wärme oder Licht und damit das Bilden von Polymeren gestartet. Während der nachfolgenden Wachstumsreaktion, auch Aufbaureaktion oder Propagation genannt, baut sich die Länge der Makromoleküle auf. Mit der folgenden Kettenübertragung wird das Stadium der Verzweigung der Molekülketten bezeichnet. Die daran anschließende Reaktion des Kettenabbruchs, auch als Termination bezeichnet, beendet die Kettenreaktion. Der gesamte Polymerisationsvorgang für gaspermeable formstabile Kontaktlinsenmaterialien läuft ohne die Zufuhr von Sauerstoff ab. Dieser wird durch nicht reaktiven Stickstoff im Zwischenraum von Deckel und Material nach Schließen der Polymerisationskammer ersetzt. Voll elektronisch werden die einzelnen Phasen der langsam ablaufenden Kettenreaktion kontinuierlich überwacht: An einer zentral im Betrieb positionierten Anzeigentafel kann der Produktionsverantwortliche, gewissermaßen beim Vorbeigehen, während des mehrere Tage dauernden Prozesses ständig die digital angezeigten Verhältnisse von erforderlicher Temperatur und Druck in den aktiven Polymerisationskammern genau verfolgen und kontrollieren. Es handelt sich bei den später zu gaspermeablenformstabilen Kontaktlinsen verarbeiteten Linsenmaterialien um Duroplaste (Duromere); ihre räumlich engmaschigen Gitter verleihen den Materialien eine hohe mechanische Festigkeit. Nach erfolgter optimaler Aushärtung ist eine Umkehrbarkeit mittels Strukturveränderung des Materials nicht zu erreichen, Duroplaste bleiben bis zur Zersetzungstemperatur starr. Speziell an die Materialeigenschaften formstabiler gaspermeabler Kontaktlinsen wird ein breites Spektrum sehr komplexer Anforderungen gestellt: neben Härte, Steifigkeit und hoher Maßstabilität trotzdem ein gewisses Maß an Flexibilität und Elastizität, Farbneutralität (die Farbe darf während des Tragens am Auge nicht ausbleichen), eine gute Benetzbarkeit, Resistenz gegen Protein- und Lipidablagerungen sowie eine entsprechend problemlose Bearbeitbarkeit auf den CNC-gesteuerten Hochpräzisionsdrehbänken beim Linsenhersteller. Bevor die Buttons das Werk verlassen, erhalten sie nach eingehender Einzelkontrolle durch die kritischen Augen der Kontrolleure noch ihren Bezeichnungsstempel. Auf Wunsch können aber auch bereits vorgefertigte Halbfabrikate geliefert werden: mittels CNC-gesteuerter Drehbänke werden bereits hier auch Rückflächen fix und fertig vorgefertigt.

 

Marktdaten
Am US-Markt, mit 2,5 Millionen Trägern dem weltweit zweitgrößten Markt für GPHCL (gaspermeable formstabile Kontaktlinsen) hinter dem japanischen Markt, hält Polymer mit 55 % Marktanteil die Spitzenposition vor Paragon mit ungefähr 28%. Der englische Materialhersteller Contamac, welcher augenblicklich auf den amerikanischen Markt drängt, sowie Menicon (der japanische Material- und Linsenhersteller ist inzwischen im Bereich der Orthokeratologie eine Kooperation mit Paragon eingegangen: Fertigung der Orthokeratologie-Kontaktlinse Paragon CRT aus dem Material Menicon Z), sind mit jeweils 1-2 % Marktanteil in den USA aktuell noch nicht sehr stark vertreten. Auf dem amerikanischen Markt wird 26% der gesamten Produktionsmenge von Polymer abgesetzt, 74 % gelangt in den Export. Die aktuelle Produktionskapazität von jährlich mehreren Millionen hergestellten und ausgelieferten Materialbuttons repräsentieren einen Weltmarktanteil von knapp 40%; im von Menicon traditionell eindeutig dominierten japanischen Markt hält Polymer gegenwärtig einen Marktanteil von etwa 15%.

 

Focal Points
Gerade eine führende Marktposition verpflichtet zwingend aufgrund weltweit in den letzten Jahren eher stagnierendem bis rückläufigem Bedarf an formstabilen Kontaktlinsenmaterialien zu besonderen Anstrengungen. Zwar fällt einerseits dem Verfahren der beschleunigten Orthokeratologie die Rolle eines Hoffnungsträgers für zukünftig global wieder steigende Nachfrage nach formstabilen hypergasdurchlässigen Kontaktlinsenmaterialien zu. Andererseits versprechen die aufgrund von Glasnost entstandenen potentiellen Märkte in Osteuropa und dem asiatischen Teil der ehemaligen Sowjetunion mittel- bis langfristig gesteigerten Bedarf. Nichtsdestoweniger engagiert sich Polymer Technology in jüngster Zeit auch intensiv außerhalb seines Kerngeschäftes, der Materialherstellung zur Produktion von GPHCL. Unter dem Programmnamen Focal Points wurde mit hohem Aufwand eine Software entwickelt, welche die verstärkte Verbreitung formstabiler Kontaktlinsen vor allem in den angesprochenen neuen Märkten fördern soll. Zu Zeiten des eisernen Vorhanges vor 1990 existierten im ehemaligen europäischen Ostblock etwa 70 Hersteller für harte Linsen ausschließlich aus dem Material PMMA. Nach Öffnung dieser Märkte aufgrund Glasnost und Fall des eisernen Vorhanges schrumpfte dort der Markt für stabile Kontaktlinsen mit dem Engagement der weltweit operierenden Konzerne und dem Vertrieb vorwiegend standardisierter weicher Austauschlinsen bis auf einen bescheidenen Restanteil von aktuell noch 10%; fast der gesamte Kontaktlinsenbedarf von 90% wird hier inzwischen mit größtenteils importierten weichen Linsen abgedeckt. Mithilfe der Software Focal Points und den verschiedenen Programmversionen kann ein Kontaktlinsenhersteller unter Verwendung CNC-gesteuerter Drehbänke Linsengeometrien in Lizenz fertigen und darüber hinaus eigene Linsengeometrien entwickel und direkt in die Fertigung einsteuern. Die einfache Grundversion – Focal Points Manufacturing Light – ermöglicht es einem Kontaktlinsenhersteller, in einer zentralen Datenbank verschlüsselt hinterlegte und damit kopiergeschützte Linsengeometrien von damit vernetzten Entwicklern oder anderen Herstellern in Lizenz zu fertigen. Dem jeweiligen Lizenzgeber wird elektronisch dafür eine entsprechend Gebühr zugewiesen. Mithilfe einer erweiterten Version – Focal Points Designer Light – kann ein Hersteller neben der Lizenzfertigung eigene Geometrien entwickeln und über die Software wiederum anderen, mit ihm verlinkten Herstellern zur Lizenzfertigung anbieten. Focal Points Workshop schließlich ist das kompletteste Softwaremodul für Hersteller: neben der Steuerung der Lizenzfertigung, der Eigenentwicklung und Steuerung des gesamten Produktionsablaufes ist hier noch der gesamte Bestell- und Auslieferungsablauf sowie die Lagerhaltung integriert. Zunehmende Automatisierung und entsprechende Tools helfen die Anpassarbeit des Anpassers speziell bei der Abpassung formstabiler Kontaktlinsen deutlich zu vereinfachen. Es gilt heute allgemein der Anspruch, die Vorzüge und Möglichkeiten computergesteuerter Produktionsabläufe zur deutlichen Steigerung von Ergebnisoptimierung und Leistungsfähigkeit einzusetzen und das auch zu kommunizieren. In gemeinsamer Einsicht und enger Kooperation profitieren davon alle Beteiligten aus den Bereichen Kontaktlinsendesign und -herstellung
sowie der praktizierende Anpasser. Die Effizienz der Anpassarbeit wird unterstützt mit entsprechend bereits vorhandener Technik und Know-How; vorzugsweise besonders für die neu erschlossenen Märkte, verständlicherweise aber nicht ausschließlich, wurde eine ideal erscheinende Zielvorgabe erarbeitet: Aufgrund elektronischer Vernetzung über das Modul Focal Points Professional ist die Produktionsmaschine für eine Kontaktlinse beim Hersteller in der Lage, genau und exakt das zu erfüllen, was ihr der praktizierende Anpasser als jeweilig gewünschtes Kontaktlinsendesign vorzugeben in der Lage ist. Diese Linsengeometrien sind mit Hilfe der Hornhauttopographie des Trägerauges zu simulieren und visuell darstellbar (Motto: Betrachte und begutachte die Kontaktlinse vor der Fertigung). Die fertigungstechnischen Möglichkeiten realisieren sämtliche nur denkbare Designs gaspermeabler Linsengeometrien von rotationssymmetrisch bis torisch, asymmetrisch, bifokal oder prismatisch, abhängig von der Kapazität der die CNC-Drehbank steuernden Software beim einzelnen Hersteller. Der entscheidende Vorteil der Kooperation möglichst vieler Beteiligter im Rahmen wachsender Netzwerke unter zu Hilfenahme der unterschiedlichen Softwareversionen von Focal Points liegt in der Einsparung extrem langer Entwicklungszeiten und dementsprechend hoher Kosten nahe an der Unwirtschaftlichkeit. Nähere Informationen zu Focal Points,insbesondere zu Installation und Betrieb, Einweisung, Kosten und Zahlungs- sowieHandhabung der Lizenzbedingungen sind unter www.focal_points@iol.it oder kurtis_ brown@polymer.com zu bekommen. Ein besonderer Dank gilt neben den Herren Alex Cannella und Jonathan Jacobson aus der Geschäftsführung von Polymer in Wilmington an dieser Stelle Herrn Marcel Kopito, dem Repräsentanten von Polymer Technology in Europa, für die freundliche Einladung sowie eine höchst engagierte und menschlich höchst fürsorgliche Begleitung während dieses Besuches in Wilmington, Massachusetts, welche auch nicht den kleinsten Wunsch offen ließ.

DOZ 4-2005